Forschung mit und an Wohntextilien
Das Textilprojekt "Textilland/Landtextil"
Das Sammeln von Objekten der Alltags- und Festkultur Westfalens – vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart – gehört zu unseren Kernaufgaben als Westfälisches Landesmuseum für Alltagskultur. Themen wie Arbeit, Familie, Migration, Wohnen, Kleidung, Tod, Technik und Nachhaltigkeit verlieren nicht an Aktualität. Viele Objekte der Sammlung sind mit Geschichten aus diesen Themenfeldern verbunden. So auch unsere textilen Bestände zur regionalen Alltagskultur.
Das Kooperationsprojekt „Textilland/Landtextil“ zwischen dem LWL-Freilichtmuseum Detmold und dem Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Universität Münster untersucht die Textilbestände des Museums. Dabei werden regionale sowie überregionale Praktiken der Musealisierung von Alltagstextilien, insbesondere von Haustextilien, erforscht. Die Arbeit begann mit einer Recherche in der Museumsdatenbank. Neben grundlegenden Informationen wie Material, Technik, Datierung und Herkunft können hier auch Standortangaben der Objekte ermittelt werden, welche erfolgreich lokalisiert werden konnten.
Doch die Recherche offenbarte Lücken: Nahezu alle weiterführenden Informationen fehlten vollständig. Die Arbeit setzte sich also am Originalobjekt in den Textildepots des Museums fort, um die Objekte weiterführend zu dokumentieren und qualifizieren. Dabei lag der Fokus auf sogenannten Haus- oder Wohntextilien. Diese wurden vorsichtig aus säurefreien Kartons entnommen, begutachtet, bestimmt, vermessen, beschrieben und fotografiert. Im Anschluss begann die detaillierte Forschung zu Provenienz, Technik und Musterbestimmung. Durch den Vergleich mit Stickvorlagen, Musterbögen und historischen Hausfrauenzeitschriften konnten die Textilien zeitlich eingeordnet und erschlossen werden.
„Textilland/Landtextil“ erschließt nicht nur einen in der Forschung lange Zeit übersehenen Sammlungsbereich, sondern trägt durch neue Erkenntnisse auch zur Diskussion über die Möglichkeiten musealer Praktiken bei. Im Zuge des Projekts wurde der Forschungsprozess selbst reflektiert und untersucht, wie der Umgang mit den Textilien als Bestandteil des Forschens einbezogen werden kann.
Die bereits qualifizierten Haustextilien sind ebenfalls in der SAMMLUNG online verfügbar.
Die wissenschaftliche Volontärin Hannah Rabea Wagner begutachtet die textilen Objekte der Sammlung im Magazin.
Textilrestauratorin Sandra Schollähn bereitet die textilen Objekte auf ihren Transport in das Fotoatelier vor.
Objektfotograf Joachim Franke fotografiert eine Tischdecke für die Qualifizierung und Dokumentation in der Datenbank.
Haus- und Wohntextilien
Bestickte Tischdecken, Wandbehänge und Überhandtücher stellen, auch wenn sich anhand der gestickten Motive kaum regionale Unterschiede feststellen lassen, noch heute einen bekannten Teil der Alltagskultur dar – nicht nur in Westfalen.
Tischdecken haben eine lange Tradition und dienten ursprünglich vor allem dem Mobiliar als Schutz vor Verschmutzung. Im Mittelalter in Deutschland wurden einfache Leinentücher verwendet, die später zunehmend dekorativ gestaltet wurden.
Besonders im 19. Jahrhundert, während der Industrialisierung, wurde die Produktion von Tischwäsche erschwinglicher und vielfältiger. In ländlichen Gegenden blieb handgefertigte Tischwäsche mit regionaltypischen Mustern und Techniken bis weit in das 20. Jahrhundert verbreitet.
Ein Überhandtuch ist ein dekorativ gestaltetes Tuch, das in der Küche an einem speziellen Halter befestigt wird, um benutzte Handtücher oder Putzlappen zu verdecken. Es besteht meist aus hellem, einfarbigem Stoff und ist mit gestickten Sprüchen oder Verzierungen versehen.
Überhandtücher wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebt und waren häufig von Frauen handgefertigte Stücke. Viele dieser Tücher sind mit Borten und Spitzen verziert und thematisieren in ihren Sprüchen Idealvorstellungen der Rolle der Frau als "gute Hausfrau".
Der Wandbehang diente im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als dekorative Ausschmückung freier Wandflächen. Sie hingen zum Beispiel in der Küche und im Schlafzimmer. Auf diesen Behängen sind neben dekorativen Elementen oft Sprüche und gute Wünsche gestickt.
Buntbestickte Haustextilien
Handarbeit, insbesondere das Sticken, war über Jahrhunderte hinweg ein fester Bestandteil des Alltags von Mädchen und Frauen. Schon in jungen Jahren lernten Mädchen verschiedene Handarbeitstechniken, wobei der Fokus weniger auf dem Endprodukt als auf der Entwicklung von Disziplin und Geduld lag. Die bunt bestickten Textilien bieten heute wertvolle Einblicke in die damaligen Techniken, Materialien und gesellschaftlichen Zusammenhänge.
Anhand der Objekte im Bestand des Freilichtmuseums lässt sich feststellen, dass die Stickereien auf Tischdecken, Wandbehängen sowie Überhandtüchern Ende des 19. Jahrhunderts meist auf die Farben Rot, Blau, Weiß beschränkt und oft mit sehr feinen Stichen aus Baumwollgarn gearbeitet sind. Im Bestand haben sich auch Nadelmalereien mit Seidengarnen aus dieser Zeit erhalten. In den 1920 bis 1940er-Jahren wurden die Stickereien deutlich bunter. Grund dafür war die wachsende Verfügbarkeit günstiger, chemisch gefärbter Stickgarne, denen oft gratis Stickvorlagen beigefügt waren. Die Farben entsprachen dem vorherrschenden Geschmack, es überwogen Stiche wie Kreuz-, Stiel-, Vor-, Rück-, Hexen- und Langettenstich.
Die Stickarbeiten wurden auf verschiedenen Materialien wie Stramin, Aida, Baumwoll- oder Leinengewebe ausgeführt. Dabei unterscheidet man zwischen zählbaren Stickereien, wie etwa dem Kreuzstich und Arbeiten auf nicht zählbarem Stickgrund. Bei diesen Arbeiten musste eine Vorzeichnung oder ein Vordruck auf das Gewebe aufgetragen werden, um die Muster umzusetzen. Diese Stickereien sind mit oft dickeren Garnen ausgeführt. Das Material war vorzugsweise Baumwolle oder Leinen, da sich diese gut mit auswaschbaren Farben bedrucken ließen. Besonders interessant sind Objekte aus der Sammlung des Freilichtmuseums, bei denen die Vorzeichnungen Verfärbungen auf dem Stoff hinterlassen haben. Ein bemerkenswertes Beispiel ist eine bunt bestickte Tischdecke, die aus alten Mehlsäcken gefertigt worden ist. Dies lässt sich anhand der Aufdrucke belegen, die noch auf den Rückseiten erkennbar sind. In Notzeiten wurden textile Materialien oft wiederverwertet und Kleidung sowie Haustextilien erhielten ein Upcycling.
Die Sammlungsobjekte zeigen eine große Vielfalt an Mustern und Motiven. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts dominierten florale Designs, oft kombiniert mit geometrischen Hintergründen. Figürliche Darstellungen und Sprüche auf Überhandtüchern wurden seltener. Tischdecken, Zierdecken und Überhandtücher wurden zunehmend zu einem einheitlichen Ensemble aufeinander abgestimmt. Industriell gefertigte Vorlagen, das günstiger gewordene Material und der allgemein zunehmende Wohlstand ließen zu, dass solche Ensembles in Heimarbeit hergestellt werden konnten. Diese Tischdecke aus der Sammlung gehört zu einem solchen Ensemble.
Kontextmaterial
Wir setzten den Schwerpunkt auf die Nachdatierung unseres Konvolutes. Ursprung der buntgestickten Muster waren oft Stickvorlagen aus Hausfrauenzeitschriften, die die gesellschaftlichen Ideale und Schönheitsvorstellungen der jeweiligen Zeit reproduzierten. Im Depot fanden wir Kontextmaterial wie Zeitschriften, Stickvorlagen, Musterbögen und Bügelmuster. Ein Beispiel hierfür, welches sich ebenfalls in unserer Sammlung findet, ist das „Blatt der Hausfrau“. Anhand von Vorlagen zum Abpausen, Musterbeispielen und Beschreibungen sowie Abbildungen von Mustertrends konnten etwa ¾ der bestickten Bestände auf einen jeweiligen Zeitraum von circa 10 Jahren genau datiert werden. Gleichzeitig lassen sich so immer wieder die gleichen Motive und Sprüche von unterschiedlichen Herstellerinnen finden. Durch die überregional publizierten Zeitschriften und die weite Verbreitung der Vorlagen und Sprüche ist es kaum möglich, regionale Unterschiede festzustellen oder eine regionale Zuordnung bei unbekannter Herkunft zu bestimmen.
Und jetzt?
Für objektbasierte Textilforschung ist die direkte Arbeit an den Objekten und damit in der Regel in einem Textildepot unverzichtbar. Viele Details und Erkenntnisse lassen sich nur durch die unmittelbare Untersuchung der Textilien gewinnen.
Im Zuge des Projekts entstanden dabei zentrale Fragen: Wie können die Haustextilien der Museumssammlung vermittelt, präsentiert und ausgestellt werden? Wie können die Materialität der Objekte, die Verarbeitungstechniken und der Forschungsprozess miteinander verbunden werden? Herausforderungen ergeben sich hier nicht nur aus konservatorischen Aspekten und der Präsentation der oft empfindlichen Objekte, sondern auch aus der Tatsache, dass viele dieser Stücke als Alltagsgegenstände lange Zeit wenig Beachtung fanden. Derartige Textilien wurden oft als “hausfrauliche Pflichten” reduziert und erst spät in Museumssammlungen aufgenommen.
Seit einiger Zeit bringt die Do-it-yourself-Bewegung neuen Schwung in das Thema Handarbeit. Im Internet werden Vorlagen und Anleitungen ausgetauscht – ob nach historischen Vorlagen oder neu aufgelegt – und handgefertigte Produkte für einen kleinen Nebenverdienst über Plattformen verkauft. Die Arbeit mit Nadel und Faden hat dadurch einen neuen Stellenwert gewonnen, bei dem das Endprodukt im Fokus steht.
In der Textilforschung bietet die Arbeit direkt an den Objekten einen wertvollen Ansatz: Statt nach passenden Stücken für bestimmte Erzählungen zu suchen, können aus den Objekten selbst neue Konzepte entwickelt werden. Diese Perspektive eröffnet nicht nur inhaltliche, sondern auch methodische und technische Möglichkeiten, um die Bedeutung der Textilien und ihrer Herstellung zeitgemäß zu vermitteln.